Wir sind noch ein ganzes Stück von Hamburg entfernt, als wir alle aufwachen. Die Blasen drücken, die Lungen wollen gefüttert werden, und es gibt noch andere Bedürfnisse, auf die ich nicht näher eingehe. Bernd und Ali haben den Größteil der über 800 Kilometer bravourös gemeistert, aber jetzt sind auch sie machtlos angesichts der Karosserieschlangen aufgrund von Baustellen, Unfällen, Wirtschaftsaufschwung. Stau allerorten, und so ziehen sich die letzten 60 Kilometer wie die Dialoge in „Stranger Things“.
Endlich sicher angekommen undf geparkt, werden die beiden Autobahnhelden mit viel Applaus belohnt, aber wir wissen alle, dass Applaus höchstens KünstlerInnen sättigt, und selbst das halte ich für eher unbelegte Theorie des Volksmunds, der mir inzwischen gehörig auf den Zeiger geht, mit seiner faktenfreien Besserwisserei. Klang kann nicht immer Inhalte ersetzen. Aber wozu erzählt man sowas überhaupt noch? Es kommt ja doch nichts an. Worauf wollte ich hinaus? Ach ja: Ali und Bernd können endlich frühstücken, denn auf der Empore des wahnsinnig schönen Gruenspan-Saals ist ein reichhaltiges Büffet aufgebaut, und das Team um Bela Beimer, Steffen, Yasmin, Edmund und Co (und es sind noch viele mehr, und alle sind toll) ist rührend bemüht und kümmerungsbereit. Wir haben einen eigenen Backstageraum und laden froh darüber unsere Wochenendkoffer ab, bevor wir in alle Richtungen auseinanderdriften. Labörnski wird von seiner Familie besucht, Pensen von KT Clue, Fred will in die Stadt, Rüdi ist ebenfalls beschäftigt, und ich weiß mit mir nichts anzufangen und schlendere durch das Festivalgelände. Das Gottseipunk-Festival findet außer im Gruenspan auch im benachbarten Indra statt, ein Kultladen, in dem bereits die Beatles ihre Hamburganfänge feierten. Ich habe da vor zwei Jahren mal mit Elfmorgen gespielt, und es war ein rauschendes Fest. Apropos Erinnerungen: Bela kenne ich noch aus Bonner Zeiten, außer hier zu veranstalten, spielt er auch bei dem „frivolen Burgfräulein“, Bonns bester Strandpunkkapelle der Welt, und zu ihrem 18 jährigen Jubiläum haben dereinst Fred und ich ihren Hit „Sportbeutelkiller“ für ein Geburtstagsalbum gecovert. Den Song findet ihr immer noch im Netz, und er ist sehr gut, in beiden Versionen. Nur mal so, als Hörtipp nebenbei.
Ich bin träge heute und nutze die Zeit, in der die Kollegen draußen rauchen, um ein bißchen im Backstage zu dösen, bevor dort die Praeparty weitergeht und ich nach draußen spaziere, wo ich viele neuen Menschen kennenlerne, zum Beispiel die Band „Schlecht und Billig“, die absolut reizend sind und mir sehr helfen, hier wirklich anzukommen. Wer dabei noch enorm hilft, ist Wonderwoman Ulli herself, die ja immer dort auftaucht, wo sie gebraucht wird. Diesmal mit selbstgemachtem Mexikaner im Gepäck und in Massen, und damit stellt sie für den Größtteil der ProtagonistInnen des Festivals das absolute Highlight dar. Ich halte mich lieber noch zurück, denn ich bin mir nicht ganz sicher, ob das für uns gut ausgehen wird, ab und an neigt Punkrock zu enorm dogmatischem Konservativismus, und für diesen Rahmen wären wir nicht gerade passgenau. Ich bin darum auch etwas unstet und unkonzentriert heute, und kann weder Familie Labinski, noch Esther und Matthias adäquat begrüßen, weil ich mit Hin- und Hergelaufe beschäftigt bin. Übrigens scusi dafür, dass ihr immer nur meine Abläufe mitkriegt, womöglich wären die Erzählungen der Kollegen spannender, aber die drücken sich halt vor den Berichten. Drum müsst ihr eben gerade mir folgen, wie ich zwischen den Clubs wechsle, und von den Konzerten so einiger der anderen Bands so zumindest zum Teil was mitbekomme. Sowohl „Pastor Gerald“ im Indra, als auch „Moltke und Mörike“ im Gruenspan gefallen mir sehr gut, bei „Shirley Holmes“ klappen Rüdi und mir gleichermaßen die Kinnladen vor Begeisterung runter, die „Popperklopper“ sind Legende.
Ich habe mich besonders auf den von mir sehr liebgewonnenen Olli Bockmist und seine „Band ohne Anspruch“ gefreut, leider mussten sie absagen, andererseits spielen dafür „das frivole Burgfräulein“,wiederum andererseits spielen sie zeitgleich zu uns, und das hätte auch BoA getan, und somit habe ich sowohl die einen als auch die anderen verpasst, ach es ist ein Kreuz. Immerhin kann ich noch einen Teil der „Shitlers“ genießen, die stets ein Hauch von Genialität mit Bierdunst umweht, und das versöhnt mich ein bißchen. Dann muss ich aber fix rüber, denn die Monsters stehen jetzt auf dem Programm:
Da zeitgleich zu unserem Linecheck auch das Schlagzeug der Rogers aufgebaut wird, die ich natürlich an dieser Stelle herzlich grüße, denn sie sind bekanntermaßen von uns geschätzte freundschaftliche Kollegen, ist es ziemlich eng und chaotisch bei unserem Soundcheck. Doch Edmund und sein Tonteam sind brilliant und fix, und wir können den Check direkt dazu nutzen, schon vor unserem Konzert durch Freestyles und etwas Quatschgelaber unsere Fühler gen Publikum auszustrecken, und bemerken, dass die Menschen Bock auf uns haben könnten. Also nicht viel Zeit verschwenden, denken wir, monstern uns rasch ein, dann muss der eine wieder Pipi, der andere noch schnell mal rauchen, und dann sind wir offiziell auf der Bühne und spielen ein launiges, aber wirklich kurzweiliges Konzert. Zwar sind wir auch heute mangels Burger nur zu fünft, aber bei 60 Minuten kriegen wir das schon kompensiert, dem einzigen Bierbecher, der fliegt, weiche ich beim Spielen mit Leichtigkeit aus, Fred verbindet Schlagermomente mit Punkideologie, und die Zeit verfliegt. Das Publikum ist sehr open minded, viele sehen uns zum ersten Mal, aber sie singen mit uns unsere Lieder ebenso wie eigenes („Ganz Hamburg hasst die AfD“, ein schöner Chor, der angesichts der aktuellen Wahlen hoffentlich wenigstens in den nächsten Jahren alsbald wieder Schule in anderen Gebieten Deutschlands machen wird), sie bilden Circle Pits und pogen und fordern im Anschluss gar noch eine Zugabe, die wir nur zu gerne geben, bevor wir punktgenau in time glücklich wieder von der Bühne stolpern.
Jetzt schmeckt mir der Mexikaner sehr gut, hernach eile ich ins Indra. wo die „Skeptiker“ auftreten, und natürlich blasen sie alles weg, aber das war klar, denn sie sind quasi immer grandios.
Danach im Gruenspan geben „Schlecht und Billig“ ein extrem charmantes Konzert, das nicht nur ich feiere, und dann fällt irgendwann der Vorhang, und im Backstage gibt es weitere Mexikaner und viele sehr freundliche Gespräche. Alle scheinen sehr entspannt, das ist schön und eine echte Wohlfühlzone, und während die Restband nun für heute Vernunft walten lässt, laufe ich noch zur Aftershowparty ins Indra, wo ebenfalls noch ein Haufen guter Leute sitzt, von denen ich einige kenne, einige mich sehr freue, nun etwas kennenzulernen, und zwar wurde die Nacht noch sehr lang, doch an dieser Stelle beende ich mit viel Dank für alle, die das Festival gestaltet und bereichert haben, den Bericht, spare mir den Rest noch für eine Bonus-Extended-Version auf, und fade nun aus dem Abend raus. Es war mir ein großes Fest und eine große Freude, und mein mit den Jahren etwas verschlafener Blick auf die Punkszene, alt wie neu, ist wieder um einiges frischer und neugieriger geworden. Möge der Geist dieses Festivals sich möglichst bald wieder bunt und laut übers schwarzblau gewordene Deutschland stülpen. Hoppla, der Satz war wohl Pathospunk. Aber wahr.