Ich kann nicht schlafen.
Dreihundertausend Gedanken titschen durch meine Schädeldecke wie Ping Pong-Bälle, mein Backenzahn hat sich wieder entzündet und die Uhr tickt gnadenlos zum Morgen hin. Aus tiefliegender Angst, den Wecker später zu überhören, entscheide ich mich ab 2:30 Uhr, mich bei einem Film wachzuhalten, und schlafe augenblicklich ein, wenn auch nur exakt für die Lämge des Films. Zum Abspann erwache ich wieder, guter Film. Jetzt ist es endgültig zu spät, nochmal die Augen zu schließen, also schnüre ich die Schuhe und jogge eine Runde den Elbkanal entlang. Immerhin komme ich so in den Genuss eines wunderschönen Sonnenaufgangs am Deich, jetzt weiß ich wieder, wofür ich die überhöhten Mieten zahle. Schön an Sport ist, dass ich mich danach immer auch fit fühle, ich gieße einen Kaffee auf den Elan, dann wird’s auch endlich Zeit, mich zum Bahnhof aufzumachen, um zum Open Flair zu gondeln. Aus Kostengründen nutze ich seit dieser Festivalsaison immer die Regionalzüge, das gleicht die Ausgaben für die Helikopter und Schnellboote anderer Reisenden aus.
Die Zugfahrt ist eigentlich ganz schön, alles klappt, die Züge sind nur halbvoll, und das Buch, das ich lese, ist toll. Kein Geheimtipp: Benedict Wells Bestseller „Hard Land“. Ein wohlriechender Hauch von Stewart O`Nan weht durch die Seiten.
Ab Göttingen wird’s dann aber voller, was ich -. dank meiner überragenden deduktiven Fähigkeiten – direkt in kausale Zusammenhänge mit dem Open Flair setze, und da sind wir schon und ich spaziere durch die schöne Altstadt gleich zur Seebühne. Ich weiß, ich wiederhole mich, erstens sowieso immer, und zweitens ganz besonders in den Flairberichten, aber wie soll ich das auch umgehen? Ich muss ja halbwegs bei de Wahrheit bleiben, und nach 21 Jahren und noch mehr Open Flair-Auftritten, ist es nahezu unmöglich, aus der Heimkehr eine Neulandforschung zu zaubern. Es ist ja gut möglich, dass jene Ära auch mal endet, darum wissen wir es jedesmal zu schätzen und freuen uns einen Ast, wenn wir doch nochmal wiederkommen dürfen, aber in die Freude mischt sich ab und an doch auch das leise Gefühl, sich aufzudrängen.
Davon ist aber nichts zu spüren, als ich den Backstagebereich an der Seebühne erreiche, stattdessen überall alte Bekannte, Freunde und Kollegen, die Kapelle Petra, Montreal, Madsen, die MitarbeiterInnen des Festivals von den Securities bis zur Pressebeauftragten, alle sind ausnehmend lieb, sympathisch, voller Freude und augenblicklich ins Herz zu schließen. Keine falsche Höflichkeit, sondern real Talk.
Fred und Rüdi kommen gerade an, Pensen und Labörnski sind samt KT Clue und Elias von der Band „König Drosselbart“ angereist, Burger taucht auch kurz darauf am Firmament auf.
Ich würde ja gerne sagen, dass es ein großes Hallo ginbt, aber um der Wahrheit gerecht zu bleiben, begrüßen wir alle uns eher nebensächlich, der Sommer samt seinen seltsamen Festivalterminen und getrennten Anreisen hat uns etwas entfremdet. Jeder von uns hatte diesen Sommer genügend Zeit, sein eigenes Süppchen zu kochen, ohne mal zwangsweise auf gemeinsamen Fahrten bei den anderen zu kosten, und das ist dann so ähnlich wie mit dem bekannten Brei vieler Köche.
Außerdem gibt es logistisch heute viel zu tun, denn:
- wir spielen dreimal eine halbe Stunde, um 17 Uhr, um 18:30 Uhr und um 20 Uhr.
- Nach dem ersten Set verteilen wir selbstgebackene Kekse am Signierstand/Infopoint des Open Flairs
- unsere Sets spielen wir nicht auf der regulären Bühne, sondern auf einem LKW-Anhänger gegenüber.
Genau den schau ich mir an, begrüße die sehr nette LKW-Crew um Phil und kann dann doch nicht umhin, zu fragen, wie es denn – auch anlässlich der heutigen Wetterprognosen – mit einem Dach für uns aussieht. Das freundliche Schulterzucken reicht mir als Antwort nicht so, denn das macht weder die Technik, noch unsere Instrumente regenfest, aber gemeinsam schrauben wir an einer Lösung für das Problem, Die Erstvariante (zwei Regenschirme an den LKW-Rand gesteckt) siwht zwar schmuck aus, aber würde nicht mal Schlümpfen Schutz bieten, also weitergeforscht, bis irgendwoher dann ein Pavillon auftaucht, den wir mit vereinten Kräften samt freiwilligen HelferInnen aus dem Publikum dann irgendwie festzurren. Sehen kann man nun zwar nichts mehr, aber das war auch vorher aufgrund der niedrigen Höhe des Anhängers schon mau, und irgendwie hat das Chaos auch seinen Reiz. Während Phil und Co den Pavillon perfektionieren, hole ich uns die erste Getränkelage aus dem Backstagebereich, wo Labörnski und ich auch noch Zeit für ein kleines Interview finden. Ich schreibe das extra, denn wir werden nicht oft gefragt, was Sache ist, und wir fühlen uns manchmal aber auch gerne wichtig.
Jetzt wird’s aber Zeit für den ersten Gig, „Ernst“ auf der Seebühne spielen den letzten Akkord, wir gehen nahtlos über mit Feuerwehrleute, und die Stimmung kocht sofort. Der Platz ist sehr voll, auch wenn spätestens ab der dritten Reihe keiner mehr was sehen kann, aber das alles wird durch Euphorie und Energie des Publikums mehr als wettgemacht. Fred hat ein Geburtstagsjubiläumslied aufs Flair gedichtet, die „Prosts“ schallen bestimmt noch bis Bad Sooden Allendorf, und beim Trinklied verteilen wir natürlich gerne Getränke.
Mein „Prädikat Punk“ geht etwas unter, denn ich bin abgelenkt, weil die Hälfte der Band jetzt unbedingt Bier haben will, und der Kasten direkt hinter mir steht, weshalb ich mir kurz vorkomme wie ein Türstopper im Getränkemarkt, aber Laterne und Interesse holen wieder alles zum Ende des ersten Sets raus, und glücklich können wir uns gleich auf den Weg zum Kekseverteilen machen, während die famose Kapelle Petra auf der Seebühne übernimmt. Für mich persönlich ist das heute der schönste Teil des Tages, denn die Leute sind alle so freundlich und entspannt, teilen die (viel zu wenigen) Kekse miteinander, freuen sich ehrlich über die Gewinnerlose, die wir in einige Kekse eingebacken haben, und geben uns verdammt viel Liebe und Bestätigung. Vielen Dank. Leider müssen wir nach einer guten halben Stunde dicht machen, denn schließlich steht Set zwei an.
Etwas gruselig ist die düstere Wolkenbank, die sich über uns zusammenzieht, Burgers Wetterapp prognostiziert, dass wir im Regen spielen werden, trotzdem ist der Platz vor der Bühne noch voller als bei ersten Set, und die ersten „Monsters“- und „Headliner“-Chöre schallen über den Platz. Wow.
Wir sind aufgedreht und flitschen pünktlich um 18:30 Uhr los. Ich weiß jetzt gerade gar nicht genau, welche sechs Lieder wir im zweiten Set spielen, aber ich glaube, es waren Wecker, Timing, Pfeffi, Frau Voigts, Sexkranker Expunker und Türen, wenn ich mich nicht irre. Was ich weiß, ist, dass die Menschen höllisch abgehen, und das Türensolo heute durch ein Heine-Gedicht ersetzt wird. Ein rauschendes Fest, und auch in der Runde verteilen wir natürlich Getränke, die vom, LKW-Flairteam zum Glück permanent nachgeliefert werden. Gute Leute, wirklich.
Pünktlich zum Ende der Runde regnets allerdings tatsächlich, und dadurch verzögert sich der weitere Ablauf des Tages etwas. Aber nur um etwa eine Viertelstunde, dann moshen Montreal formidabel los und ich hole mir erstmals am Tag was zu essen.
Die Stunde zum letzten Auftritt vergeht wie im Flug, zudem haben wir die Ehre, um 19:45 Uhr live für die Hessenschau nochmal ein paar Fragen zu beantworten, ich habs mir nachher natürlich angeschaut, wir sind süß, dann aber letztmals für heute auf die Bühne, der Platz ist noch voller, wie toll seid ihr? Zwerge, Nordsee, Cola Korn, sorry, jetzt weiß ich tatsächlich die anderen drei Songs nicht mehr, aber wir verteilen zum Ende nochmal Getränke, als gäb`s kein morgen mehr, allerdings gibt’s ja schließlich für uns hier auch kein morgen mehr, also erstickend zwischen Freuden- und Rührungstränen über die wirklich vielen, duften Leute, die hier mitsingen, tanzen, klatschen, Chöre erfinden, und uns ein Gefühl geben, etwas zu taugen. Vielen Dank dafür.
Eigentlich wollte ich nach dem Auftritt noch mit vielen Menschen ein Bier trinken und quatschen, mit alten Freunden wie Peffi und Moni, Leif und Miri, Ulli (danke für den Pfeffi) und Andy, auch Johanneke schulde ich noch ein Bier, aber ich finde zunächst im Trubel niemanden mehr, und ich muss auch ehrlich zugeben, dass ich spüre, wie gerade jede Energie aus mir raus geflossen ist und ich immer fahriger werde, darum bitte ich sehr um Verzeihung, dass wir das nicht mehr geschafft haben, und hoffe, wir holen das mal in etwas ruhigeren Momenten nach.
Im Backstage sitze ich erstmal eine ganze Weile mümmelnd über der Chipstüte, während draußen das Alkaline Trio abfeuert, und ich bin eigentlich schon drauf und dran, meinen Rucksack zu schnüren, da kommen noch Micha El Goehre und Anja vorbei, die sich eigentlich auch nur verabschieden wollen, aber was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Stehen (Nein Vater, ich rauche nicht mehr, das ist ein Reinhard Mey-Zitat), also hole ich Bier und wir setzen uns noch eine ganze Weile fest. Immer mehr Leute kommen zu uns und bleiben auf ein Getränk, dann kommen andere, und der Kreis ist wahnsinnig entspannend und aufgeschlossen. Simon (von Simon und Jan), Judith, Silke, Tina, Miriam, Markus von der Kapelle, die Herren von Madsen, die sich just auf ihren Auftritt vorbereiten, Marcus Stolle himself, ich schwelge mit Hirsch ein wenig von NOFX, es ist funkelnd und schön und unaufgeregt. Das Madsenkonzert selbst brennt natürlich den Laden vollends ab, und hernach gibt es nichts, was das noch toppen könnte, und wir lassen uns kompetent, zuvorkommend und kurzweilig zum Hotel shuttlen. Wir, das sind Labörnski, Pensen, KT Clue und ich, doch nur die zwei Letztgenannten bekommen den Hals nicht richtig voll und verweilen noch im ansonsten schlafenden Hotelaußenbereich, bei den letzten mitgebrachten Bieren und ihrer höchsteigenen Musik, die sie sich gegenseitig vorspielen und durchaus sehr unbescheiden kommentieren. Nachsichtige Zeugin davon ist Open Flair Besucherin Antje, die auch hier im Hotel wohnt und eigentlich nur noch eine Gutenachtzigarette rauchen wollte, über die beiden angeschickerten Eigenlober aber doch arg schmunzeln muss. Und damit blendet die Kamera nun auch ab, der Abspann läuft und der Soundtrack gefällt.