Man muss es leider sagen: Man wacht auf und die Klauen der Realität zerkratzen dir augenblicklich die Seele. Trump war nicht bloß ein Alptraum, und Putin auch nicht, und das ganze furchtbare hasserfüllte Rechtswählervolk weltweit auch nicht. Die Welt hat sich augenscheinlich kollektiv für den Wahnsinn der eigenen Abschaffung entschieden.
Mit diesen fröhlichen Worten starte ich um Punkt zehn Uhr in den Tag, und auch der Rest der Monsters ist bereits auf den Beinen, jeder zu einem anderen Behufe. Außer Fred, unser einstiger Frühstaufsteher, er hat sich anlässlich dieser Tour wohl dazu entschieden, dem Schlaf endlich mal die Oberhand über den durchstrukturierten Tag zu überlassen.
Wirt spielen heute in Essen, allerdings nicht, wie sonst, im schnuckelig schmucken Turock, sondern in der beeindruckenden und viel zu großen Weststadthalle, in die wir erst noch reinwachsen müssen. Das Team um Maren ist aber ebenfalls ein Traum, alle sind zauberhaft zu uns, das Essen ist eine reine Freude, und auch ein paar alte Gesichter treffen wir unter der Crew wieder. Das ist schön.
Jan und ich entscheiden uns ohne langes Rauszögern für eine gemeinsame Laufrunde durch den Krupp-Park, der sich beinahe wie eine sich Fata Morgana inmitten der Betonauswüchse des Kapitalismus (Ikea, Rollo, usw.) herauszeichnet und überrascht von der eigenen Schönheit vergessen hat, rechtzeitig zu verschwinden, bevor wir sie nutzen können. Wir tollen eine gute Stunde durchs Grün, danach dann Dusche, Tee und Rüdigratulation, der heute Geburtstag feiert, und der Tag fließt weiter auf dem Strom der Zeit, der alles bestimmt.
Fabi ist in Daueraction umtriebigst, es gibt einen Raucherraum, weshalb Fred über den Tag verschollen bleiben wird, Frische Mische und Rüdi proben, ich schreibe den Tourbericht und horche die ganze Zeit in mich, ob ich krank werde (hopefully Hypochonderstyle), Urs managt und tut und macht, und auch Burger stößt erfreulicherweise genesen wieder zu uns, so dass es jetzt endlich komplett weitergehen kann. Maren erzählt uns, dass vor etwa 12 Jahren sowohl ihre Punk- als auch ihre Pfadfinder-Cliquen zu unserer Musik gefeiert haben, besonders zu „Frösche“ und „Auflaufform“, und obwohl uns das auch ein bisschen alt macht, freuen wir uns sehr, denn wir sind gern Teil einer Jugendbewegung, und auch Punk mögen wir.
Der Soundcheck geht rasch und problemlos, und Bühnenaufbau und Licht machen den großen Saal doch sehr gemütlich. Herrlich. Jetzt kann es eigentlich auch losgehen.
Der Saal ist heute großflächig mit Sitzplätzen ausgefüllt und auf denen sitzen viele Menschen der besten Sorte. Ein prachtvoller Anblick. Und konzentriert sind die Damen und Herren, dass es eine Wonne ist.
Allerdings muss ich auch zugeben, dass ich das Gefühl habe, wir kommen heute etwas schwerfällig in Gang. Keine Ahnung, ob es Nervosität ist, oder der Druck der Aufnahme, ein bißchen zerstreut sitzen wir da und brauchen etwas, um uns einzugrooven. Das Publikum hilft uns dabei aber enorm gut, und der Abend gewinnt an Schwung und Elan, Rüdi glänzt mit funkelnden Klängen, Fred mit imposanter Klaviatur, Labörnski und Pensen spielen heute einige verwendungsmögliche Aufnahmen in den Kasten. Burger hat mit einem falschen Hustenbonbon zu kämpfen, wie er sagt, kämpft sich aber souverän elegant durch das Konzert, und auch ich kriege Songs sehr gut verwertbar gespielt, und erzähle befreit was von Spaß- und Arbeitstassen, und wage auf freundliches Bitten der Audienz spontan ein kleines Textilexperiment bei Türen, was allerdings dazu führt, dass ich hernach die komplette zweite Strophe vergesse. Selbst bekomme ich das gar nicht mit, sondern erst, als Edelhörerin Sandrine mich nach dem Konzert ein wenig empört und sehr berechtigt darauf hinweist, dass ich ihr damit jede Möglichkeit zur interaktiven Drehtürchoreographie gestohlen habe. Und ich dachte noch im Anschluss: „Wie seltsam, diesmal hat sie gar nicht die Drehtür getanzt.“ Tja, Mysterium geklärt, mein Fauxpas, Pardon.
Es sind wieder einige langjährige BesucherInnen da, und wir sind sehr stolz, dass ihr uns so lange begleitet, denn erst die Begleitung macht die Reise zum Austausch.
Aber auch neue Menschen kommen und strahlen uns nach dem Konzert an, und das freut uns nicht minder, überhaupt sind wir baff und froh, wie euphorisch der Abend uns gespiegelt wird. Überhaupt: Standing Ovations, Pogo und Mitmachereien vom feinsten, aber auch konzentrierter Zuhörmodus, und das an einem Freitag Abend, das ist nicht die Regel. Wow, Leute, merci. Und wir versprechen, beim nächsten Mal noch eine Schippe draufzulegen, denn dass wir das noch lockerer können, wissen wir natürlich. Und Extradank an dich, liebe Lieke, für das schöne Bild, das du uns gemalt hast (ihr findet es noch in unserer Instastory). Und dass Viva con Agua vor Ort ist, erfreut mich total, finde aber auch schade, dass sie nicht vorher Bescheid gegeben haben, dann hätten wir sie zumindest bühnenfeaturen können. Aber schön zu hören, dass der Abend auch für sie recht erfolgreich war. An alle: Supportet Viva con Agua. Love.
Wir treffen auch Liedermacherkollegen Maik und Bruder, aber wie beide so richtig konstatieren: Richtig Party ist heute nicht. Der Nachteil großer Hallen ist eben auch, dass viele Menschen darin arbeiten müssen, und weil Zeit Geld ist, ist erstere etwas knapp, Aber wir sind sowieso derzeit die Vernunftboys und liegen bereits, nachdem wir mit Superbernd, unserem Nightlinerchef, in rasendem Tempo den Bus eingeladen haben, um halb zwei Uhr in der Falle, nach einem Gutennachtbrot, vom Weststadtteam liebevoll geschmiert, und einem Kamillentee, selbstgekocht. Rock’n’Roll, du harter Hund, irgendwann holen wir dich schon ein.
Essen, Ruhrgebiet, ihr reizender Menschenschlag, bleibt unbedingt so, wie ihr seid. Aber das muss man euch zum Glück auch gar nicht extra sagen. Auf bald!